
Die Macht der Farben
Bei aller Liebe zu Rot, Grün, Gelb und Co.: Warum entscheiden wir uns bei Autos meist für neutrale Farben? Christine Mohr, Professorin an der Universität Lausanne, gibt Hinweise aus der Farbpsychologie.
Die kleinen Bilder an der Wand, die dekorativen Figürchen auf dem Tisch, das Trinkglas neben dem Laptop, ja sogar die Ordner im Regal präsentieren sich bunt wie ein Regenbogen. In jedem anderen Büro würde man dieses Potpourri aus Rot, Orange, Pink, Blau und Grün womöglich übersehen. Aber wenn man sich am Arbeitsplatz von Christine Mohr befindet – sie selbst trägt am liebsten Grün und Rot –, verlieren die Farben ihre Beiläufigkeit. Und dies zu Recht, wie die Professorin für Kognitive Psychologie der Universität Lausanne bestätigt. Seit sie sich beruflich mit Farbe befasse, habe sie ein besonderes Augenmerk darauf. Sie wundere sich beispielsweise über die Farbwahl bei Autos, sagt sie mit Blick auf den riesigen Parkplatz eines Autohauses direkt vor ihrem Fenster – und bringt uns somit gleich zum Thema.
Christine Mohr, was geht Ihnen beim Blick aus dem Fenster durch den Kopf?
Wo sind die Farben, die ich in meiner Kindheit im Strassenbild erlebte? Seit ich vor acht Jahren in dieses Büro eingezogen bin, fällt mir auf, dass die meisten Autos grau, schwarz oder in letzter Zeit vor allem weiss sind.
Das deckt sich mit den Erkenntnissen einer Datenanalyse, wonach in der Schweiz fast 78 Prozent des Fahrzeugbestands grau, schwarz oder weiss sind. Blau folgt mit 10 und Rot mit 6 Prozent. Die übrigen Farben kommen auf einen Anteil von weniger als 2 Prozent. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Da ich mit meinem Team meist Farben ohne Kontext oder im Kontext von Emotionen erforsche, kann ich dazu keine wissenschaftliche Antwort liefern. Was wir wissen, ist, dass Menschen Spass haben, Farben auszuwählen. Aber in der heutigen Konsumgesellschaft rechnen sie vielleicht nicht damit, ein Auto ein Leben lang zu behalten. Sie denken schon beim Kauf an den Wiederverkauf und wählen deshalb neutrale Farben, die einen geringen Wertverlust versprechen. Ihre Freude an Farben leben sie lieber mit Klamotten, Möbeln und Accessoires aus.

Was denken Sie über Ratgeber im Internet, die Autos aufgrund ihrer Farbe eine bestimmte Ausstrahlung zuschreiben? Da heisst es etwa, schwarze Autos wirken mächtig oder weisse unschuldig und klar.
Da ist sicher etwas dran. Farben können ein Statement sein und als kommunikative Dimension eingesetzt werden. Die Autos von Politikern und Reichen sind ja oft schwarz. Und wenn es jemand schafft, sein weisses Auto weiss zu behalten, traut man ihm zu, auch in anderen Bereichen reinlich zu sein. Aber die Wirkung rührt nicht von den Farben als solche her, sondern von den Assoziationen, die damit verknüpft sind. Diese sind kulturell bedingt, gelernt und leben von ihrer Wiederholung. Gewisse Firmen können eine Farbe so stark besetzen, dass wir bei Orange beispielsweise an ein Budget-Produkt denken.
Das heisst, die Assoziationen sind nicht in jeder Kultur gleich?
Auf Deutsch sagen wir, dass wir gelb vor Neid werden. Im Französischen kommt Gelb eher in dem Ausdruck «rire jaune» vor, was so viel wie «gezwungen lachen» bedeutet. Und während wir mit Blau hierzulande positive Gefühle assoziieren, steht die Farbe im Angelsächsischen mit Traurigkeit in Verbindung. «Having the blues» sagt man dort. Und übrigens existieren solche Verknüpfungen auch ohne dass eine Farbe gesehen werden muss – das Farbwort reicht aus.
Woher kommt überhaupt das menschliche Bedürfnis, Farben mit Emotionen zu verknüpfen?
Wir nehmen an, dass sich diese Verknüpfungen schon in der frühen Geschichte der Menschheit etabliert haben, weil Farben mit spezifischen Erlebnissen in Verbindung stehen. Rot ist Feuer, es signalisiert Wärme und Überleben. Es macht einen Unterschied, ob eine Erdbeere noch grün oder schon rot und somit reif ist. Und wenn jemand einen roten Kopf bekommt, wissen wir, dass er wütend oder beschämt ist. Im Laufe der Zeit haben sich die Farbbegriffe von den Objekten dieser Erlebnisse gelöst, aber in unseren Köpfen finden die Verknüpfungen noch immer statt.
Apropos Rot: In einem Blog auf «Psychology Today», den Sie gemeinsam mit Ihrer Kollegin Domicele Jonauskaite betreiben, schreiben Sie, dass Rot zwar für die Liebe steht, man bei Rot aber nicht unbedingt Liebe empfindet. Wie meinen Sie das?
Man ist schnell versucht, davon auszugehen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Farbe und Gefühl besteht. Aber stellen Sie sich einmal vor, was das bedeuten würde. Sie schauen auf ein blaues Objekt und werden traurig, dann auf ein grünes und fühlen Hoffnung, danach auf ein schwarzes und verspüren Angst. Ein Einkauf im Supermarkt wäre nicht auszuhalten. Nur weil Rot für Liebe steht, heisst das nicht, dass Sie die Liebe in dem Moment spüren. Überhaupt konnten wir bislang wenig Gefühle nachweisen, die durch Farben ausgelöst werden.
Trotzdem schreiben Sie der Farbe Rot in dem Blog eine besondere Bedeutung zu.
Ja, bei Rot ist etwas Besonderes los, wie wir in einer neuen Studie feststellen konnten. Wir wollten wissen, ob eine Farbexposition durch ein Virtual-Reality-Experiment den körperlichen Zustand messbar verändert, zum Beispiel in Form von Herzklopfen oder einer veränderten Atemfrequenz. Tatsächlich erhöhte eine rote Umgebung die körperliche Erregung, was bei Blau nicht der Fall war. Es ist wohl kein Zufall, dass Politiker bei wichtigen Auftritten oft Rot tragen, um Präsenz und Kampfbereitschaft zu signalisieren. Es gibt sogar Daten, die darauf hinweisen, dass Sportteams eher gewinnen, wenn sie rote Trikots tragen. Weil sie sich in Rot stärker fühlen? Oder weil es andere eher abschreckt? Beides ist möglich.
Was könnte das in Bezug auf rote Autos bedeuten?
Rot erregt Aufmerksamkeit. Die meisten Warnschilder sind rot, weil sie eher beachtet werden, als wenn sie blau oder grün wären. Mit einem roten Auto signalisiere ich, dass ich beachtet werden möchte. Umgekehrt könnte es sein, dass ich beim Anblick eines roten Autos etwas anderes verpasse, weil ich durch das Rot abgelenkt werde. Es wäre spannend, das einmal genauer zu erforschen. Mir fällt gerade keine psychologische Studie zu Autos ein, die einer solchen Frage nachging.
Eine andere Farbe, die vielleicht keine messbare körperliche Wirkung hat, aber mit der Freude assoziiert wird, ist Gelb. Warum sieht man so selten gelbe Autos?
Gelb stellt uns tatsächlich vor ein Rätsel. Gelb und Pink, um genau zu sein. Wir haben in der Forschung festgestellt, dass diese Farben fast ausschliesslich positiv bewertet werden – viel positiver als Blau und Rot. Trotzdem werden sie praktisch nie genannt, wenn wir nach Farbpräferenzen fragen. Wir verstehen selbst noch nicht genau, warum das so ist.
Ebenfalls positiv bewertet wird Grün. Was sagt das über mich als Person aus, wenn ich in einem knallgrünen Auto daherkomme?
Dass Sie wahrscheinlich eine Ökotante sind.
Ehrlich? Ich könnte aber einen knallgrünen -Sportwagen fahren!?
Den zeigen Sie mir dann! Aber im Ernst: In einem gewissen Kontext könnte Grün bedeuten, dass Sie Wert auf Umweltschutz legen, weil diese Verknüpfung gelernt ist und auch von Firmen gerne gemacht wird. Aber wenn Sie nach einem konkreten Zusammenhang zwischen Farbwahl und Persönlichkeit fragen, muss ich Sie enttäuschen. Wir haben in einer Studie herausgefunden, dass die Lieblingsfarbe null Rückschlüsse darauf machen lässt, ob eine Person aufgeschlossen oder introvertiert, pingelig, zuverlässig oder eine tolle Mama oder ein toller Papa ist.

Leuchtendes Grün und kräftiges Rot: Die Forscherinnen Christine Mohr und Domicele Jonauskaite sind sich der Signalwirkung ihrer Lieblingsfarben bewusst.
Wie steht es eigentlich um das Klischee, dass Frauen mehr Wert auf Farben legen als Männer?
Dazu hatten wir neulich einen lustigen Befund. Wir haben Farbpräferenzen abgefragt und festgestellt, dass sie sich zwischen Frauen und Männern kaum unterschieden. Frauen haben aber deutlich länger gebraucht, um ihre Auswahl zu treffen.
Das heisst, Frauen verbringen bei einem Autokauf potenziell mehr Zeit am Konfigurator?
Möglich wäre es! Wenn ich daran denke, wie lange ich den Fliesenleger bei meiner Hausrenovation hingehalten habe, weil ich mich weder für Farbe, Form noch Grösse entscheiden konnte …
Tendieren wir generell dazu, die Wirkung von Farben zu überschätzen?
Nach dem aktuellen Stand der Forschung überschätzen wir die direkte Wirkung auf unsere Gefühle. Trotzdem sind Farben wichtig und können als Statement eine tragende Rolle spielen. Wir haben gelernt, für was Farben stehen und haben diese Symbolkraft in unserem kollektiven Wissen, in unserer Sprache verankert.
Aber würde es Ihnen nicht eine körperlich messbare Freude bereiten, wenn Sie beim Blick aus Ihrem Fenster plötzlich lauter grüne und rote Autos sehen würden?
Doch, ganz bestimmt! In dem Sinne, dass es mich freuen würde, etwas Überraschendes zu sehen. So ähnlich, wie wenn ich in der Stadt einem lieben Menschen begegne, beim Wandern im Herbst einen Steinpilz finde oder die ersten Veilchen im Frühling entdecke.

Prof. Dr. Christine Mohr
Professorin für Kognitive Psychologie
Christine Mohr ist seit 14 Jahren Professorin für Kognitive Psychologie an der Universität Lausanne. Studiert hat die gebürtige Süddeutsche an der Universität Konstanz, ehe sie an der Universität Zürich promovierte und danach in Genf, Kanada und England tätig war. Nebst dem Interesse am menschlichen Glauben, widmet sich ihre Forschung hauptsächlich dem Zusammenhang von Farbe und Gefühl. Das öffentliche Interesse an der Farbpsychologie ist gross, das allgemeine Wissen darüber aber gering. Deshalb hat sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Domicele Jonauskaite die «Colour Experience» ins Leben gerufen. Auf dieser Plattform teilen sie empirisch fundiertes Wissen über das subjektive Erleben von Farben.
Text Nina Treml
Fotos Dominique Zahnd
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